Als Ansiedlungsrayon (russ. Черта оседлости / Tscherta osedlosti; engl. Pale of Settlement) wird das Gebiet im europäischen Westen des Russischen Kaiserreiches bezeichnet, auf das zwischen Ende des 18. und Anfang des 20. Jahrhunderts das Wohn- und Arbeitsrecht der jüdischen Bevölkerung beschränkt war. Das Gebiet war zuvor größtenteils Bestandteil Polen-Litauens gewesen und mit den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts unter russische Herrschaft gelangt.
Der Ansiedlungsrayon, der sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckte, umfasste mehr als eine Million Quadratkilometer. Dort lebten Ende des 19. Jahrhunderts beinahe fünf Millionen Juden, die knapp zwölf Prozent der Bevölkerung ausmachten.
Gouvernement | Prozent |
---|---|
Wilna | 12,86 |
Kowno | 13,77 |
Grodno | 17,49 |
Minsk | 16,06 |
Mogilew | 12,09 |
Witebsk | 11,79 |
Kiew | 12,19 |
Wolhynien | 13,24 |
Podolien | 12,28 |
Warschau | 18,22 |
Lublin | 13,46 |
Płock | 9,29 |
Kalisch | 8,52 |
Piotrkow | 15,85 |
Kielce | 10,92 |
Radom | 13,78 |
Siedlce | 15,69 |
Suwałki | 10,16 |
Łomża | 15,77 |
Tschernigow | 4,98 |
Poltawa | 3,99 |
Taurien | 4,20† |
Cherson | 12,43 |
Bessarabien | 11,81 |
Jekaterinoslaw | 4,78 |
† zuzüglich 0,43 % Karäer |
1791 wurde durch einen Erlass der Zarin Katharina II. festgelegt, dass Juden nur innerhalb bestimmter Gebiete leben und arbeiten durften. 1835 änderte Nikolaus I. diesen Erlass und erließ für weitere spezielle Bezirke Genehmigungen, die die Ansiedlung für Juden regelten. Alexander II. lockerte einige dieser Bestimmungen ein wenig, besonders wohlhabendere Juden konnten sich danach von den Niederlassungs- und Arbeitsbestimmungen freikaufen. Doch durch die sogenannten Maigesetze seines Nachfolgers Alexander III., die vom Mai 1882 bis zur Februarrevolution 1917 gültig waren, wurde die Bewegungsfreiheit der russischen Juden wieder eingeschränkt.
Der Ansiedlungsrayon umfasste 15 westrussische Gouvernements und 10 polnische Gebietseinheiten. Zwischen 1862 und 1879 wurden die Bestimmungen für Kaufleute der 1. Gilde, Träger akademischer Grade und Zunfthandwerker teilweise aufgehoben. Jedoch konnte eine Niederlassungsbewilligung jederzeit entzogen werden. Ab Mai 1882 durften sich mit einem solchen Dokument versehene Juden nur noch in Städten neu ansiedeln, die Wohnsitznahme auf dem Land wurde ihnen verboten. Die im Ansiedlungsrayon verbliebene überwiegende Mehrheit wurde ab 1881 von der an anderen Minderheiten praktizierten Russifizierung ausgenommen, Russischunterricht an jüdischen Schulen war verboten. Zahlreiche Pogrome ereigneten sich mit Duldung oder aktiver Förderung durch staatliche Organe.[2]
Eine Folge dieser Politik war, dass bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts mehr als fünf Millionen Juden, rund 90 Prozent der im russischen Einzugsbereich lebenden Juden, im Ansiedlungsrayon sesshaft waren. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 geriet das Gebiet unter deutsche Besatzung, wobei ein kleinerer Teil der Juden in sowjetische Gebiete weiter nach Osten fliehen konnte – jedoch die überwiegend verbliebene jüdische Bevölkerung durch Deutsche und einheimische Helfer beinahe vollständig während des Holocaust ermordet wurde.